Autism Diagnostic Interview – Revised
Das Autism Diagnostic Interview – Revised (ADI-R) ist eines der wichtigsten Instrumente in der Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) und wird weltweit sowohl in klinischen Settings als auch in der Forschung eingesetzt. Es handelt sich um ein halbstrukturiertes, standardisiertes Interview, das speziell entwickelt wurde, um Verhaltensauffälligkeiten zu identifizieren, die typisch für Autismus sind. Der Fokus liegt dabei auf der Erhebung einer detaillierten Anamnese aus der Perspektive der Eltern oder einer nahestehenden Bezugsperson, die das Kind oder den Erwachsenen über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet hat.
Entwicklung und Ziel des ADI-R
Das ADI-R wurde ursprünglich in den 1980er Jahren von Catherine Lord, Michael Rutter und Ann Le Couteur entwickelt und stellt eine überarbeitete Version des ursprünglichen Autism Diagnostic Interview (ADI) dar. Die Überarbeitung führte zu einer größeren Präzision und wurde an die Diagnosekriterien des DSM-IV und später des DSM-5 sowie des ICD-10 angepasst.
Das Ziel des ADI-R ist es, klinische Fachkräfte mit einem strukturierten Verfahren auszustatten, um Autismus zuverlässig diagnostizieren zu können. Das Verfahren ist besonders nützlich in der Frühdiagnostik, da es nicht nur Symptome im aktuellen Verhalten des Betroffenen erfasst, sondern auch Entwicklungsinformationen aus der Kindheit berücksichtigt. Es richtet sich nicht nur an Kinder, sondern auch an Jugendliche und Erwachsene, sodass Autismus über die gesamte Lebensspanne hinweg identifiziert werden kann.
Struktur und Ablauf des Interviews
Das ADI-R ist ein Interview, das mit den Eltern oder einer anderen Bezugsperson geführt wird. Es ist darauf ausgelegt, die Entwicklung des Kindes sowie die aktuellen Verhaltensweisen detailliert zu erfassen.
1. Zielgruppe und Anwendung
Das ADI-R wird bei Kindern ab einem Entwicklungsalter von mindestens 24 Monaten, aber auch bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verwendet. Wichtig ist, dass eine Eltern- oder Bezugsperson an dem Interview teilnimmt, die das Verhalten des Kindes über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet hat und in der Lage ist, die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen detailliert zu schildern. Die Bezugspersonen sollten idealerweise eine tiefgehende Kenntnis der Entwicklungsgeschichte und der gegenwärtigen Verhaltensmuster des Betroffenen besitzen.
2. Dauer des Interviews
Das Interview selbst dauert in der Regel zwischen 1,5 und 3 Stunden, abhängig von der Komplexität des Falls und der Ausführlichkeit der Antworten. Das Interview kann in einer einzigen Sitzung durchgeführt werden, wobei eine ruhige und ungestörte Umgebung wichtig ist, um eine akkurate Erhebung der relevanten Informationen zu gewährleisten.
3. Aufbau des Interviews
Das ADI-R besteht aus insgesamt 93 Fragen, die in drei Hauptkategorien unterteilt sind:
- Soziale Interaktion
- Kommunikation und Sprache
- Repetitive und stereotype Verhaltensweisen und Interessen
Diese Fragen werden in Bezug auf das vergangene Verhalten und die jetzigen Verhaltensweisen der betroffenen Person gestellt, wobei auch die frühkindliche Entwicklung berücksichtigt wird. Dabei wird jeder Bereich anhand von 4 Antwortmöglichkeiten bewertet:
- 0 = Verhalten nicht vorhanden
- 1 = Verhalten in milder Form vorhanden
- 2 = Verhalten in deutlicher Form vorhanden
- 3 = Verhalten in extremer Form vorhanden oder mit starkem Auftritt
Die drei Hauptbereiche des ADI-R
1. Soziale Interaktion
Der Bereich der sozialen Interaktion untersucht, wie der Betroffene mit anderen Menschen, insbesondere mit Gleichaltrigen und Erwachsenen, in Kontakt tritt. Einige Schlüsselfragen in diesem Bereich beinhalten:
- Wie reagiert das Kind auf die sozialen Signale anderer (z. B. Blickkontakt, Gesten)?
- Zeigt das Kind Interesse daran, mit anderen zu spielen oder zu interagieren?
- Zeigt es die Fähigkeit, emotionale Reaktionen zu erkennen oder selbst Emotionen zu zeigen?
Bei Personen mit Autismus können erhebliche Auffälligkeiten auftreten, wie etwa ein reduzierter Blickkontakt, Schwierigkeiten bei der emotionalen Kommunikation oder das Fehlen des Wunsches nach sozialen Interaktionen. Eine betroffene Person kann auch Schwierigkeiten haben, emotionale Bindungen zu anderen aufzubauen.
2. Kommunikation und Sprache
In diesem Bereich wird sowohl die verbalen als auch die nonverbale Kommunikation des Betroffenen untersucht. Zu den wichtigsten Fragen gehören:
- Wann begann das Kind, Worte zu sagen?
- Hat das Kind Schwierigkeiten bei der Bildung von Sätzen?
- Nutzt es Gesten oder Mimik, um sich mitzuteilen?
- Zeigt es eine ungewöhnliche Sprachverwendung, wie zum Beispiel Echolalie (Nachsprechen von Worten)?
Autistische Personen zeigen häufig Einschränkungen in der verbalen und nonverbalen Kommunikation. Das kann sich in Form von Sprachverzögerungen oder in ungewöhnlicher Sprachverwendung manifestieren, wie z. B. Wiederholung von Phrasen oder eingeschränkten verbalen Fähigkeiten, die oft zu Missverständnissen führen.
3. Repetitive und stereotype Verhaltensweisen
Der Bereich repetitiver und stereotype Verhaltensweisen bezieht sich auf Verhaltensmuster, die wiederholt und stereotypisch sind. Hierzu gehören:
- Wiederholende Bewegungen (z. B. Händeflattern, Schaukeln)
- Ständige Beschäftigung mit bestimmten Spezialinteressen
- Strikte Routinen und Widerstand gegen Veränderungen der gewohnten Abläufe
- Ungewöhnliche Reaktionen auf sensorische Reize (z. B. extreme Empfindlichkeit gegenüber Licht oder Geräuschen)
Personen mit Autismus entwickeln häufig stark ritualisierte Verhaltensweisen oder eine intensive Beschäftigung mit bestimmten Themen, die für Außenstehende oft unangemessen erscheinen. Diese Verhaltensweisen werden oft als Befreiung von einer gefühlten Überlastung verstanden und sind in hohem Maße wiederholend und einfältig.
Auswertung und Interpretation der Ergebnisse
Nach dem Interview erfolgt die Auswertung der Antworten. Das ADI-R verwendet eine Punkteskala, die eine umfassende Einschätzung der Schwere der Symptome ermöglicht. Die Ergebnisse werden mit den Diagnosekriterien für Autismus aus dem DSM-5 und ICD-10 verglichen. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass das ADI-R allein nicht ausreicht, um eine endgültige Diagnose zu stellen. Vielmehr ist es ein Instrument im Rahmen eines umfassenden diagnostischen Prozesses. Dieser umfasst auch die Beobachtung von Verhaltensweisen (z. B. mittels des ADOS-2) sowie weitere Tests und Interviews.
Vorteile und Limitationen des ADI-R
1. Vorteile
- Hohe Validität und Reliabilität: Das ADI-R ist wissenschaftlich gut fundiert und bietet eine zuverlässige Methode zur Diagnostik von Autismus.
- Umfassende Abdeckung: Das Instrument betrachtet das Verhalten sowohl aus der Perspektive der aktuellen Symptome als auch der frühen Kindheit.
- Weltweite Anwendung: Das ADI-R wird international genutzt, was es zu einem anerkannten Standardverfahren macht.
2. Limitationen
- Zeitaufwändig: Das Interview ist langwierig und erfordert eine detaillierte Befragung der Bezugspersonen.
- Abhängigkeit von Erinnerungen: Die Qualität der Antworten hängt stark von der Fähigkeit der Bezugspersonen ab, sich genau an frühere Verhaltensweisen zu erinnern.
- Nicht direkt beobachtend: Das ADI-R erfordert ergänzende Verfahren wie die ADOS-2, da es keine direkte Beobachtung des Verhaltens des Betroffenen umfasst.
Fazit
Das Autism Diagnostic Interview – Revised (ADI-R) stellt einen zentralen Bestandteil der Autismus-Diagnostik dar und bietet eine wertvolle Grundlage für eine detaillierte Analyse der sozialen Interaktionen, der Kommunikationsfähigkeiten sowie der repetitiven Verhaltensweisen einer betroffenen Person. In Kombination mit anderen Diagnoseinstrumenten wie dem ADOS-2 liefert das ADI-R umfassende Informationen, die zur Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen beitragen.
Es bleibt ein unverzichtbares Werkzeug in der klinischen Praxis, besonders für die Frühdiagnostik, und leistet einen wichtigen Beitrag zur Identifizierung von Autismus auf einer breiten Palette von Altersstufen.